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„Niemand muss Mobbing akzeptieren!“

Mindestens 60 Prozent aller heimischen Schüler sind direkt oder indirekt von Mobbinghandlungen betroffen. Im Interview erklärt Schulpsychologe Hofrat Prof. Dr. Josef Zollneritsch warum die Zahl in Österreich so hoch ist, warum gemobbt wird und was Betroffene tun sollten.

Mindestens 60 Prozent aller heimischen Schüler sind direkt oder indirekt von Mobbinghandlungen betroffen. Im Interview erklärt Schulpsychologe Hofrat Prof. Dr. Josef Zollneritsch warum die Zahl in Österreich so hoch ist, warum gemobbt wird und was Betroffene tun sollten.

 

Cool: Man hört und liest oft über Mobbing an Schulen. Wie ist die aktuelle Lage in Österreich?

Prof. Dr. Josef Zollneritsch: Wir haben in Österreich eine steigende Mobbing-/Bullying-Rate und liegen international sogar an der Spitze der OECD-Länder. Mindestens 60 Prozent aller heimischen Schüler sind direkt oder indirekt von Mobbinghandlungen betroffen – je älter die Schüler, umso höher die Rate.

Cool: Naive Frage, aber warum ist das so?

Prof. Dr. Josef Zollneritsch: Die Grundfrage ist nicht, wer wird von wem gemobbt und warum, sondern wie leben wir in unserer Gesellschaft ganz generell miteinander? Der Konkurrenzgedanke und der Ego-Aspekt der Menschen wird immer stärker und damit schwindet auch die Rücksichtnahme auf andere oder Schwächere. Wie gehen wir mit Leuten um, die anders aussehen, eine andere Kultur haben, und das nicht nur in der Schule, sondern am Arbeitsplatz oder als Alltagsbeispiel auch in der Straßenbahn? Die Schule ist immer das Spiegelbild unserer Gesellschaft. Immer mehr Leistung, immer mehr Druck, man muss immer besser aussehen, besser dastehen und sich immer besser präsentieren. Nur wenn man schön, attraktiv, stark und erfolgreich ist, ist man jemand – wenn selbst Erwachsene mittlerweile so denken, dann braucht man sich nicht wundern, dass Kinder und Jugendliche das auch glauben. Das bewirkt, dass man schnell einmal ausgegrenzt wird, wenn man nicht in das perfekte Bild hineinpasst. Das hat sich gravierend geändert.

Cool: Welche Rolle spielen da die sozialen Medien?

Prof. Dr. Josef Zollneritsch: Instagram & Co. sind natürlich nicht an allem schuld, aber sie können gewisse Tendenzen verstärken. Der Jugendliche, der im realen Leben schon als der Stärkere gilt und online jetzt auch noch Bestätigung in Form von Likes bekommt, fühlt sich noch mächtiger. Der Ausgegrenzte bekommt wiederum eine noch größere Angriffsfläche. Es kann im Internet auch jeder posten und behaupten was er will. Das ist natürlich ein großes Problem, das nur schwer in den Griff zu bekommen ist, aber wegschauen bringt definitiv nichts, denn eines ist klar: Ein Leben ohne Internet und Smartphone wird es nie mehr geben.

Cool: Wer ist nun schuld: die Gesellschaft, die Eltern?

Prof. Dr. Josef Zollneritsch: Schüler aus sozial schwachen Familien, Schüler mit Migrationshintergrund, Schüler mit berufstätigen Eltern… die gehen zu Mittag nachhause ins Nichts. Wir haben nicht wenige Schüler im Alter zwischen 10 und 14 Jahren, die am Nachmittag einsam und sozial nicht betreut sind. Und das begünstigt dann, dass sie vielleicht noch abgegrenzter und zum Opfer werden oder in ihrer Freizeit Unsinn treiben und womöglich zu einem Täter werden. Natürlich liegt da die Verantwortung auch bei den Eltern, aber auch die Schulen könnten hier mit den richtigen Maßnahmen viel bewirken. Je älter die Jugendlichen, desto wichtiger sind auch die Peers, also die Freunde und das Umfeld. Wenn diese Faktoren gut zusammenspielen, geht es dem heranwachsenden Jugendlichen auch gut und das Mobbingproblem löst sich praktisch von selbst.

Cool: Leider ist dem aber nicht so. Inwieweit stehen auch die Schulen in der Verantwortung?

Prof. Dr. Josef Zollneritsch: Unser gesamtes Schulsystem gehört verbessert. Eine Unterrichtseinheit jagt die nächste und dazwischen ist wenig Raum für ein Miteinander – selbst im Sportunterricht werden die Schwächeren wieder ausgegrenzt. Die skandinavischen oder Benelux-Länder sind da schon viel weiter, da ist es selbstverständlich, dass es längere Pausen und Gespräche mit den Lehrern gibt. Soziales Lernen, Teambuilding, die Möglichkeit den Schülern auch zwischen den Einheiten etwas beizubringen. Ein weiterer Aspekt ist die Selbstreflexion und die Lebensplanung – vor allem in der Unterstufe spielt das eine wichtige Rolle. Was kann ich? Wo will ich hin? Was möchte ich in meinem Leben erreichen? Je mehr es gelingt, einen Jugendlichen für sein eigenes Leben zu begeistern, ihn in die Berufsfindung miteinzubeziehen und ihm klar zu machen, selbst Verantwortung zu übernehmen, desto unproblematischer ist der Schulalltag. Bei Mobbing ist es häufig der Fall, dass sich das Opfer und/oder der Täter in einem Loch befinden. Keine familiäre Wärme, keine Ziele.

Cool: Was würden Sie sich von den heimischen Schulen wünschen?

Prof. Dr. Josef Zollneritsch: Es wäre wichtig, dass die Schulen von sich aus an einer grundsätzlichen Gewaltfreiheit interessiert sind. Das heißt unter anderem: Ansprechpartner schaffen. An wen kann ich mich wenden, wenn es ein Problem gibt? Ich sehe hier jede Menge Handlungsbedarf in Österreich, da sind andere Länder schon viel weiter, als wir. Es braucht Sozialarbeiter an den Schulen, richtige Vertrauenslehrer, die dafür geschult sind und denen sich wirklich alle Schüler gerne anvertrauen. Es bringt ja nichts, nur die Opfer zu unterstützen, denn auch die Täter brauchen Hilfe, schließlich gibt es ja auch Gründe, warum diese Schüler andere Menschen mobben. Und dazwischen gibt es noch jede Menge Bystander, die dabei sind, die Bescheid wissen, aber auch nicht wissen, was sie tun sollen. Die Schule muss ein Ort sein, an dem nicht nur Mathematik und Geschichte gelehrt, sondern an dem das gewaltfreie, soziale Leben von Menschen miteinander eingeübt wird. Hier sind auch die Schulen im Einzelnen gefragt, aktiv zu werden. Zudem müsste von der Politik noch viel mehr Geld in soziales Lernen gesteckt werden, denn das würde auch ganz generell das Bildungsniveau heben. Je besser es den Schülern geht und je wohler sie sich fühlen, desto höher ist auch das Lernergebnis.

Das Smartphone ist regelrecht eine Waffe!

Cool: Wenn man von Mobbing hört, sind es meistens gleich Extremfälle. Warum ist das so?

Prof. Dr. Josef Zollneritsch: Es passiert schnell, dass sich derjenige oder diejenige dafür geniert, denn keiner will vonsich aus zugeben, ausgegrenzt zu werden. Menschen suchen immer Bestätigung. Die Opfer versuchen deshalb zunächst alles in ihrer Macht stehende zu tun, um sich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Anstatt sich Hilfe zu suchen, werden Kompromisse eingegangen. Vielleicht zieht sich die Person in Zukunft anders an, zahlt dem Täter Geld oder tut Dinge, die sie von sich aus nie tun würde, nur um der eigenen Opferrolle zu entfliehen. Die meisten Opfer haben die Haltung: Etwas zu sagen bringt sowieso nichts und wenn, dann wird es nur noch schlimmer. Deshalb dauert es in der Regel immer so lange bis Mobbingfälle bekanntwerden, weil die Opfer meistens warten bis sie es gar nicht mehr ertragen können.

Cool: Ich bin ehrlich gesagt froh, dass ich nicht mehr zur Schule gehe. Einer filmt etwas, verschickt es in WhatsApp-Gruppen oder postet es online…

Prof. Dr. Josef Zollneritsch: Das Smartphone ist hier regelrecht eine Waffe! Wir beobachten das immer wieder, wie schnell man vor allem mit Handyvideos und sozialen Medien jemanden fertigmachen kann, oft auch im Zusammenhang mit sexualisierten Handlungen. Wir hatten erst kürzlich einen Fall, in dem ein Geschlechtsverkehr mitgefilmt und dem Hauptkonkurrenten um dieses Mädchen geschickt wurde. Dieser fühlte sich gedemütigt und hat sich gerächt, indem er das Video an die gesamte Klasse und auch die Eltern des Mädchens geschickt hat. Man kann mit dem Smartphone fürchterliche Dinge tun, die den Betroffenen ein Leben lang an der Psyche haften.

Cool: Was kann oder sollte man tun, wenn man betroffen ist?

Prof. Dr. Josef Zollneritsch: Die wichtigste Message ist: Je früher man sich dafür entscheidet, es öffentlich zu machen, darüber zu reden und die Sache ans Tageslicht zu bringen, desto eher ist Hilfe möglich. Es gibt Möglichkeiten und die Schulen sind auch zum Handeln verpflichtet. Sich selbst einzureden, dass es ohnehin nichts bringt, etwas zu sagen, ist der falsche Weg. Zuwarten macht es nur noch schlimmer, nicht nur, weil die Täter dann glauben, sich alles erlauben zu können, sondern auch weil die Narben in der Psyche der Opfer immer tiefer werden. Also bitte meldet euch. Niemand muss Mobbing akzeptieren!

© Lizz Sator/Prontolux

Das ist „Tabulos“
Das Interview mit Professor Zollneritsch stand schon sehr lange auf meiner To-Do-Liste. Eigentlich wollte ich das Thema bereits im Vorjahr ansprechen, nachdem wieder einige Mobbingfälle in den Medien waren, allerdings kamen mir immer andere Interviews dazwischen. Nun hat es endlich geklappt und ich war überrascht in welche Richtung sich das Gespräch entwickelte. Ich gehe ja immer ohne Erwartungen zu den Interviews und hätte jetzt nicht damit gerechnet, dass wir so viel über das österreichische Schulsystem reden. Ja, das mag euch vielleicht zu komplex sein bzw. könnt ihr am Schulsystem nichts ändern, ich finde das Interview aber dennoch sehr spannend. Es gibt einiges zu tun und auch ihr könnt euren Beitrag leisten, indem ihr helft, nicht einfach wegschaut und mit euren Mitmenschen gut umgeht. #miteinander (Daniel Gräbner)