In der vorigen Ausgabe haben wir mit Mag. Dr. Martin Riesenhuber von der Steirischen Drogenberatung über Alkohol- und Drogenmissbrauch gesprochen. Im zweiten Teil des Interviews widmen wir uns allgemein dem Thema Sucht.
Cool: Wir haben es im ersten Teil bereits angerissen, aber nun noch einmal generell: Ab wann gilt man eigentlich als süchtig?
Mag. Dr. Martin Riesenhuber: Das ist schwierig zu beantworten, weil es dafür keinen Punkt gibt. Das ist ein schleichender Übergang vom Normalkonsum, der für die Betroffenen meistens gar nicht spürbar ist. Grundsätzlich gilt man aber dann als süchtig, wenn man auf etwas krankhaft nicht mehr verzichten kann.
Cool: Also wenn man es ohne Feierabendbier gar nicht mehr aushält oder man zwanghaft jeden Tag Sex haben muss?
Mag. Dr. Riesenhuber: Genau, allerdings muss man da unterscheiden. Es gibt sowohl die psychische als auch die physische Abhängigkeit. Körperlich abhängig machen beispielsweise Alkohol, Heroin und Benzodiazepine. Sexsucht wäre hingegen eine psychische Sucht, ein innerer Zwang. Für mich persönlich gibt es dann auch noch die seelische Abhängigkeit. Wir sind alle auf der Suche nach Sinngebung. Viele Menschen haben mittlerweile Probleme mit den Kirchen, die uns zur Verfügung stehen, und trotzdem sind wir alle spirituelle Wesen, ohne da jetzt zu esoterisch klingen zu wollen. Auf diesem Weg kann man eben auch in gewissen Süchten seine Heimat finden.
Cool: Könnte man rein theoretisch nach allem eine psychische Abhängigkeit entwickeln? Blödes Beispiel, aber weil gerade Fasching war: Könnte man auch süchtig nach Krapfen werden?
Mag. Dr. Riesenhuber: Wenn man automatisiert in jeder Mittagspause einen Krapfen isst und dann womöglich schlecht drauf ist, wenn es mal an einem Tag keinen mehr gibt, dann sollte man sich schon einmal darüber Gedanken machen, welchen Stellenwert Krapfen in meinem Leben haben. Das Beispiel war aber gar nicht so schlecht, da die Verhaltensmuster eines Menschen mit Essstörungen und eines Suchtkranken nicht sehr verschieden sind. Das sind Probleme mit einer ähnlichen Dynamik. Wir nennen das im Überbegriff Verhaltenssüchte – dazu zählen unter anderem auch Sexsucht und Kaufsucht. Diese Süchte unterscheiden sich aber insofern, weil man Alkohol oder Drogen absetzen und komplett ohne sie leben kann. Ich sage deshalb immer: So schlimm körperliche Abhängigkeit und Entzug auch sein mögen, psychische Abhängigkeit ist viel schlimmer, denn die bedarf eines lebenslangen Umdenkens im Kopf. Bei Essstörungen muss man einen neuen Zugang zur Ernährung erlangen, man kann also nicht einfach nichts essen oder bei Shoppingsucht nie mehr etwas einkaufen.
Cool: Das ist jetzt zwar eine sehr pauschale Frage, aber weiß man denn eigentlich, warum Menschen süchtig werden?
Mag. Dr. Riesenhuber: Das ist sehr schwierig zu beantworten, da es fast unendlich viele Ursachen gibt. Persönlichkeitsfaktoren, Freundeskreis, Familie, Genetik, man kann da kaum verallgemeinern. Ich arbeite seit 20 Jahren in der Suchtberatung und jeder Suchtkranke, der in diesen Jahren bei mir war, hatte eine eigene Geschichte und musste individuell betrachtet werden. Speziell beim Alkohol gibt es große Unterschiede. Man kann zwei Menschen selben Alters hernehmen, die gleich viel konsumieren und der eine kann damit umgehen und der andere entwickelt ein Problem. Es gibt in unserer Beratungsstelle Menschen, die viel trinken, aber noch nicht alkoholkrank sind und welche, die mit weit weniger Konsum abhängig sind.
Kein Jugendlicher fängt einen Konsum an, um davon absichtlich abhängig zu werden.
Cool: Was ich nie verstehe, ist, dass Kinder von Alkoholikern oftmals selbst zu Trinkern werden. Wieso ist das so und warum wirken die Eltern nicht abschreckend?
Mag. Dr. Riesenhuber: Das ist eine sehr interessante Frage. Wir bemühen uns in der Suchtprävention seit Jahren speziell um Kinder von suchtkranken Eltern. Wie Sie schon sagten, könnte man vermuten, dass das Verhalten der Eltern eher abschreckend wirkt. Wir glauben, dass das auch so wäre, aufgrund diverser Umstände ist es aber dennoch so, dass circa jedes vierte Kind von suchtkranken Eltern selbst eine Sucht entwickelt.
Cool: Bleiben wir bei den Jugendlichen. Kann man da die Ursachen für Sucht denn einschränken?
Mag. Dr. Riesenhuber: 14-Jährige sind heute mit Dingen konfrontiert, die sind in meiner Jugend gar nicht an mich herangekommen. Man kann die Generationen nicht vergleichen. Heutzutage gibt es im Jugendalter so viele Entwicklungsaufgaben zu erledigen, in dieser Lebensphase sogar besonders viele innerhalb eines kurzen Abschnitts, und diesen sind viele nicht gewachsen. Man beginnt dann vielleicht zu trinken oder zu rauchen, weil man Stress in der Schule hat, weil man im Freundeskreis dazugehören will oder weil man es zuhause nicht aushält und dem Alltag entfliehen möchte. Und da denkt man dann nicht mehr rational darüber nach, ob man das selbst eigentlich möchte oder was für die eigene Gesundheit am besten wäre. Speziell Jugendliche haben oft das Gefühl unverwundbar zu sein. „Mir kann das nichts anhaben. Ich werde schon nicht abhängig. Davon werde ich nicht krank.“ Kein Jugendlicher fängt einen Konsum an, um davon absichtlich abhängig zu werden.
Cool: Es gibt ja nicht nur Drogen, Alkohol und Zigaretten. Man hört auch immer häufiger von Internet- und Videospielsucht…
Mag. Dr. Riesenhuber: Internetsucht ist noch ein sehr unausgegorenes Thema und zählt ebenfalls zu den Verhaltenssüchten. Auch hier gilt, was bei allen Süchten gilt: Kann man noch ohne? Zockt man einfach sehr viel und gerne oder schlägt man die eigene Mutter, wenn sie mal den Stecker zieht und fühlt sich schlecht wenn man nicht spielen kann? Kann man nicht mehr schlafen, weil man Angst davor hat, etwas zu verpassen? Gerade das Internet oder Videospiele sind Zufluchtsorte vor dem Alltag und sind Drogen deshalb nicht unähnlich. Zieht man sich völlig aus dem sozialen Leben zurück, macht man seine Schulaufgaben nicht mehr und ordnet man alles dem Videospiel unter, dann ist das auf jeden Fall bedenklich.
Cool: Es gibt ja mittlerweile dieses wunderschöne Wort „Smombie“, also Smartphone-Zombie. Was sagt das über unser Leben in der heutigen Zeit aus?
Mag. Dr. Riesenhuber: Nur weil man übermäßig viel am Handy hängt, ist man noch lange nicht süchtig, da muss man mit der Formulierung aufpassen, aber es ist natürlich eine Gratwanderung und ein Zeichen dafür, welch große Bedeutung das Smartphone in unserem Leben einnimmt. Ich kann dazu auch eine kurze Geschichte aus meinem Privatleben erzählen. Ich war im Herbst wandern und hatte mein Handy im Auto vergessen. Ich habe mich zwar geärgert, weil ich keine Fotos machen konnte und nicht erreichbar gewesen wäre, falls irgendwas passiert, aber es war dann ein schöner, entspannter Nachmittag. In diesem Ausmaß ist alles noch im grünen Bereich, ein Problem wäre es erst dann, wenn ich die Landschaft hätte gar nicht genießen können oder womöglich auf halber Strecke umgekehrt wäre, weil ich es ohne Handy nicht aushielte.
Cool: Was sollte man tun, wenn man an sich selbst oder an Freunden Suchtverhalten erkennt?
Mag. Dr. Riesenhuber: Frühestmöglich professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Je länger man in dem Suchtprozess drinnen ist, desto schwieriger wird der Ausstieg, aber es zahlt sich immer aus! Ich hatte schon ganz schwere Fälle bei mir, die schon an der Kippe zwischen Leben und Tod standen und heute ein super Leben führen. Letztendlich liegt es aber am Willen der Menschen selbst. Es gibt immer wieder Fälle, dass Leute zu mir kommen und denken, ich drücke auf einen Knopf und die Sucht ist behoben. In Wahrheit können wir die Menschen nur dabei unterstützen, an sich selbst zu arbeiten.

Das ist „Tabulos“
Ich habe euch ja schon in der vorigen Ausgabe erzählt, dass es erstmals ein „Tabulos“ in zwei Teilen gibt, da das Thema Sucht einfach viel zu umfangreich ist und mein knapp einstündiges Gespräch mit Martin Riesenhuber unmöglich auf zwei Seiten gepasst hätte. Solltet ihr den ersten Teil verpasst haben, so könnt ihr ihn hier auf unserer Homepage nachlesen. Ich kann mich nur wiederholen, aber das Interview war sehr interessant und aufschlussreich und brachte euch beim Lesen hoffentlich auch ein wenig zum Nachdenken. Seid selbstreflektiert, beobachtet und achtet auf euer eigenes Verhalten, dann werdet ihr hoffentlich nie zur Suchtberatung müssen. Martin, Du warst super
sympathisch, aber nein, danke! 😉 (Daniel Gräbner)